Eine wunderweiße Nacht 

 

Es gibt so wunderweiße Nächte, drin alle Dinge Silber sind...

Hätte ich damals schon Rilke gelesen, hätte ich jener Nacht einen Namen geben können. Denn genau das war es: eine wunderweiße Nacht.

 

Als wir gegen 23 Uhr die Wohnung von Martins Eltern in der Krausestraße 11 verließen, drei Treppen hinuntersprangen und hinaus aus der quietschenden Tür, verschlug uns ein schneidend kalter Wind den Atem, ein freundlicher Mond hing dick am Himmel und erleuchtete wie im Märchen die Nacht. In den vergangenen drei Stunden hatte es ununterbrochen geschneit, eine endlos glitzernde Fläche erwartete uns und kaum trauten wir uns, sie zu betreten, denn wir würden die ersten sein, die ihre Spuren setzten. Wie Adam und Eva auf umgekehrtem Weg, zurück ins Paradies, in ein weißes, reines, ganz und gar unschuldiges Land.

 

Ich war siebzehn, Martin achtzehn, und gemeinsam hatten wir gerade unsere Unschuld in Martins Jugendzimmer verloren. Auch das Laken, auf dem wir uns geliebt hatten, war schneeweiß gewesen - und geblieben. Merkwürdig, eine unbefleckte Defloration... War das möglich? Es hatte doch alles geklappt. Oder stimmte etwas nicht? Ob Martin sich auch Gedanken machte?

 

Vorsichtig stapften wir los, setzten knirschende Füße in frischen Schnee und waren ganz stumm. Noch gebannt von dem, was passiert war, und berührt von der weißen Zauberwelt vor uns. Mit einer Freundin hätte ich jetzt vor lauter Ergriffenheit losgekichert.

 

Martins Eltern waren übers Wochenende verreist. Die Gelegenheit, auf die wir seit Wochen gewartet hatten, war endlich da. Meine Eltern verreisten nie, außerdem hatte ich noch zwei jüngere Geschwister, die geschlossene Zimmertüren nicht respektierten, sondern als Herausforderung zum Einbrechen ansahen. Bei Martin gab es nur eine Großmutter, die etwas seltsam und vor allem ziemlich schwerhörig war. Mit Oma Baule konnten wir es aufnehmen, nach acht saß sie sowieso vor dem Fernseher, und „in mein Zimmer kommt sie nie“, hatte Martin versichert. Wir würden nur ertragen müssen, „Wetten, dass...?“ in voller Lautstärke mithören zu müssen. Gegen die großmütterliche Schwerhörigkeit und Frank Elstners joviale Penetranz legten wir Moody Blues auf, Nights in white satin, Endlosschleife. Leider musste Martin immer wieder, wenn das letzte Ohhhh, how I love you... verklungen war, die Nadel des Plattenspielers um etliche Rillen zurücksetzen, was unser Liebesspiel unsanft unterbrach, bis wir die Nadel endlich schleifen ließen.

 

Nun, da ich Handschuh-Hand in Handschuh-Hand mit Martin durch den knöchelhohen Schnee stapfte, kam mir alles, was passiert war, so unwirklich vor wie die nächtliche Szenerie meines Heimwegs. Hell und dunkel, märchenhaft und unheimlich zugleich. Es war etwas Heiliges geschehen, das zugleich ganz profan war. War ich jetzt eine Frau? Erwachsen? Blöder Gedanke. War irgend etwas anders als vorher - abgesehen vom Jungfernhäutchen, über dessen aktuelle Beschaffenheit ich mir nicht so ganz im Klaren war?

 

In jener wunderweißen Nacht erschien mir alles, aber auch alles an Martin silbern. Mit meinem Silberprinzen schwebte ich durch die weiße Wunderwelt. Jeder Atemzug schien ein Verbrechen an der heiligen Stille. Kein Auto, kein Fahrrad, kein Hund, kein Mensch, kein gar nichts, nur Martin und ich und ich und Martin auf dem Weg über das Feld, ein Kartoffelacker, der sein Elternhaus von dem meinen trennte. Zwei Auserwählte. Allein auf der weiten weißen Welt.

War ich glücklich? Ich musste doch jetzt glücklich sein. Warum sollte ich nicht glücklich sein? War alles „richtig“ gewesen?

 

Froh war ich, erleichtert war ich, stolz, dass wir „es“ geschafft hatten. Das erste Mal! Ohne Panne. Test bestanden, Hürde genommen, Ziel erreicht. Bestimmt hatten wir „es“ gut gemacht - was Martin wohl dachte? -, wir wurden belohnt durch die süße Stille, die weiße funkelnde Pracht, den schmunzelnden Mond. Guter alter Mond, wie viele Liebespaare hast du schon beobachtet? Waren wir jetzt ein Liebespaar? Würden wir „es“ jetzt immer auf dieselbe Weise machen, jetzt, da wir wussten, dass „es“ ging?

 

Es war ziemlich einfach gegangen. Ich hatte mir vorher geschworen, nicht darüber nachzudenken, am besten gar nicht zu denken. Auch wenn ich über die Anatomie von Mann und Frau und ihre körperliche Vereinigung seit unserem Biologieunterricht in der sechsten Klasse theoretisch gut Bescheid wusste, blieb es mir doch ein Rätsel, wie die entscheidenden Körperteile zusammenkommen konnten, ohne einander Schaden zuzufügen. An Lust wagte ich gar nicht zu denken. Schmerzfreiheit schien schon ein Triumph. Gefühle spielten sich in meinem siebzehnjährigen Kopf sowieso nicht „da unten“ ab, sondern viel höher, zwischen Herz und Hirn. Romantische, reine Liebe. So rein, so unschuldig wie der frische Schnee. So lange wir uns geliebt hatten, hatte es geschneit. Das war kein Zufall, das war ein Zeichen!

 

Wir hinterließen unsere Abdrücke auf dem weißen Teppich, den der Himmel uns in dieser Nacht zu Füßen gelegt hatte. Vier endlos lange Schlangen, dicht an dicht, vier Füße tanzend im Takt der Nacht. Würden wir jetzt immer zusammenbleiben?

 

Wir erreichten das Haus meiner Eltern. Das Küchenfenster war erleuchtet, also war meine Mutter noch auf. Martin nahm mich in die Arme, um mich zum Abschied zu küssen. Plötzlich waren wir ganz verlegen und wussten nicht, wohin mit unseren Händen, Mündern, Nasen. „Tschüs, bis morgen.“ „ Ja, bis morgen.“ „Schlaf gut.“ „Du auch.“ Wie komisch, wie anders das jetzt alles klang.

 

Meine Mutter kam aus der Küche, als ich die Haustür hinter mir schloss. „Na Bine, alles klar für die Geschichtsarbeit am Montag? Habt ihr gut gelernt?“ „Ja, Mama. - Stell dir vor, während der Französischen Revolution ist viel weniger Blut geflossen, als man denkt. Wenn man sich mal genauer damit befasst ...“

 

So?“, sagte meine Mutter stirnrunzelnd. „Na, dann schlaf mal gut.“

 

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Die Kurzgeschichte "Eine wunderweiße Nacht" gehört zu den Siegertexten des Putlitzer Preises 2008 und ist im Autorenkalender 2009 der 42er Autoren erschienen.    

 

 

 

 

 

 

Nur ein Sessel

 

Ein Pole hat ihn gerade abgeholt, deinen Sessel. Mit einem großen weißen Lieferwagen, polnisches Kennzeichen. Er sah ganz nett aus, der Pole. Ein freundliches, offenes Gesicht. Wenigstens das. Wenn ich deinen Sessel schon in fremde Hände geben muss. Andererseits habe ich ihn noch lange mitgeschleppt, vier ganze Jahre, obwohl er schon ziemlich ramponiert war.

 

Ich kenne den Sessel solange wie dich. Nein, länger als dich, denn du bist tot, dein Sessel hat dich überlebt. Und heute habe ich ihn weggegeben. Ist doch nur ein Sessel, oder?

 

Als ich dich kennen lernte, an einem warmen Augustabend vor beinahe einem Vierteljahrhundert, lernte ich wenig später schon deinen Sessel und den Rest deiner Einrichtung kennen. Wir haben nicht lange gefackelt, damals. Wir waren jung und mutig und die Nacht war lau.

 

Deine Einzimmerwohnung war voll gestopft mit Mitbringseln von Reisen in ferne Länder. Dunklen furchterregenden Masken aus dem Senegal. Tonpfeifen aus Peru. Bildern aus Bananenblättern aus Kenia. Kissen in leuchtenden Farben aus Mexiko. Schildpatt-Tabletts und -Schalen von den Philippinen. Ein Teppich aus Ägypten. Ein aus Rohr geflochtenes Häuschen aus Indonesien, dessen diverse Fenster zu öffnen waren, diente als Lampe.

 

In dieser Nacht, beziehungsweise den zwei, drei Stunden, die von der Nacht noch übrig waren, brauchten wir kein Licht. Der Vollmond schien so schön wie nie zuvor und nie wieder danach, und er schien genau in dein Zimmer, tauchte alles in ein bläuliches unwirkliches Licht. Blau und milchweiß waren die Farben dieser Nacht. Dein Sessel und die anderen Sitzmöbel waren in einem weißen Wollstoff bezogen.

 

Wann ich das erste Mal in diesem Sessel gesessen habe, erinnere ich nicht mehr. Es war ja auch deiner. Er gehörte eindeutig zu dir.

 

Dreimal ist er mit uns umgezogen, zweimal neu bezogen worden. Und noch immer macht er einen ganz stabilen Eindruck. Zwar ist das Sitzpolster etwas schmuddelig und durchgesessen, aber der Rahmen aus massiven dunklen Rattanstäben scheint unverwüstlich. Nur eine Strebe hat eine winzig kleine Kerbe abbekommen. In all den Jahren. Und dort, wo deine Hände auf den Lehnen gelegen haben, ist die Farbe verblichen, das Dunkelbraun einem undefinierbaren Hellbraun-Grau gewichen. Du hast deine Abdrücke hinterlassen, für alle Ewigkeit.

 

Wer jetzt wohl in deinem Sessel sitzen wird? Die Frau des Polen, die ihn bei Ebay ersteigert hat, ist im Auto geblieben. Nur kurz sah ich ihr Gesicht im dunklen Wagenfenster; ihr Mann hatte es eilig, das Möbel zu verstauen. Innerhalb von zwei Minuten war ich ihn los, deinen Sessel. Für zwölf Euro – und ich musste keinen Sperrmüllwagen bestellen. Ich hatte gar nicht damit gerechnet, dass überhaupt jemand so ein altes Möbelstück kauft.

 

Vielleicht hatte ich es mir nicht gewünscht, dass alles so reibungslos ging?

 

Jetzt klafft eine Lücke in meinem Zimmer. Dabei bin ich heilfroh, das alte Teil endlich los zu werden. Es hatte sich buchstäblich überlebt, denn es hat dich überlebt. Und ich habe mir ja bereits einen neuen wunderbaren Sessel für ausgedehnte Lesestunden gekauft. Seit Jahren habe ich danach gesucht, und neulich, als ich in das Möbelgeschäft kam und mich in diesen Sessel setzte, wusste ich sofort, das ist meiner. An jenem Tag habe ich gar nicht gesucht, ich habe ihn gefunden, meinen Sessel. Aber der hat noch keine Geschichte.

 

Nur ein Sessel. Und so viele Erinnerungen. Ich sehe dich sitzen darin, die Arme verschränkt, den Blick in die Ferne gerichtet, nachdenklich, nachdenkend. Oder Musik hörend und mit den Fingern trommelnd. Laut auflachend am Telefon. Im Gespräch mit mir. Du und dieser Sessel, ihr wart eins. Ich habe viel lieber gelegen, herumgelümmelt, bin immer wieder auf- und nieder gesprungen, während wir uns stundenlang über Gott und die Welt unterhielten, du hast gesessen, meist ein Bein über das andere geschlagen.

 

Später, als wir nicht mehr so viel miteinander redeten, war er hauptsächlich dein Fernsehsessel. Und dein Radiosessel, dein Tor zur Welt. Auf den Knien hattest du den Weltempfänger und konntest bis spät in die Nacht nach immer exotischeren Sendern suchen. Weite und wochen-, ja monatelange Reisen wie früher waren jetzt nicht mehr drin. Du musstest dir die Ferne über die Kurzwelle nach Hause holen. Dabei träumtest du dich dann weg in andere Welten. Manchmal war ich dabei, oft warst du allein unterwegs. Langsam sank dein Kopf auf das Nackenteil, nicht selten bist du weggedämmert, bis dich irgendwelche Pieptöne oder unangenehmes Rauschen weckten. Ich hatte, heute sage ich: leider, wenig Verständnis für deine Fluchten und Träumereien. Mir erschien das wie Zeitverschwendung. Muße habe ich erst später kennen gelernt, vielleicht erst, als du schon nicht mehr da warst. Vielleicht geht das auch nicht, zwei Müßiggänger unter einem Dach? Als wir zusammen waren, konnte ich nie lange auf einem Fleck sitzen, immer gab es irgendetwas zu tun, zu bewegen. Es erschien mir unsinnig, still und ohne irgendetwas, ohne eine Daseinsberechtigung auf einem Sessel zu sitzen. Dir nicht. Und darin lag deine Stärke.

 

Nur ein Sessel, und jetzt tut es doch weh. Wieder dieser Schmerz rund ums Herz. Unerwartet, als sei mir etwas weggerissen worden. Dabei kann ich mich gut trennen von Dingen, viel besser als die meisten meiner Freunde. Und man muss doch Platz schaffen für Neues. Aber jetzt sehe ich nur die Lücke. Leeren Raum. Du bist weg. Und nun auch dein Sessel.

 

Dein Sessel, von dem ich mich heute getrennt habe, stand immer so, dass du hinaus schauen konntest, in den Himmel, in den Garten, in die Wolken, an den Horizont des Daseins und vielleicht auch darüber hinaus. Dein Blick konnte frei schweifen.

 

So werde ich meinen neuen Sessel auch stellen.

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Die Geschichte "Nur ein Sessel" erhielt im Hamburger Literaturhaus in der Reihe "Perlen vor die Säue" (September 2010) den dritten Platz in der Publikumswertung.

 

 

 

 

 

 

 

 

  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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