Der Nächste bitte!?  Ein Versuch über „die nächsten Dinge“  

 

  

 

Der Versuch, etwas über „die nächsten Dinge“ zu sagen, macht im ersten Moment erstaunlich ratlos. So schwierig klingt das Thema nicht, sofort stellen sich eine Unmenge von Gedanken ein – aber eben nicht: eine schlüssige Idee. Ein roter Faden, der sich schön von Anfang bis Ende spinnen ließe, zur Freude des Autors und zur Freude des Publikums. 

 

Wer oder was ist mir der oder die oder das Nächste? 

 

Ist gerade der Überfluss an Gedanken, die wie Kolibris in meinem Kopf tanzen, ein Zeichen unserer Zeit? 

 

Konzentration also! 

 

Konzentration, die innere und äußere Ausrichtung auf etwas - einen Gegenstand, eine Person, einen Gedanken, ein Ziel - wäre schon einmal ein gutes „Nächstes“. In meinem Fall die Konzentration darauf, gute Gedanken zum Thema zu entwickeln. Und in Ihrem, wenn Sie denn bereit sind, weiter zuzuhören, genau dieses zu tun: zu hören und - eben nichts anderes. 

 

Konzentration. Sich ganz und gar auf das Gegenwärtige einlassen. Oder, wie Buddhisten sagen: Handle stets so, als hinge die Zukunft des Universums von deinem Tun ab, und lache dabei über dich selbst, weil du glaubst, dass irgend etwas, was du tust, irgendeinen Unterschied machen wird.

 

Dass uns aufmerksamkeitszentriertes Handeln etwas einbringt, nämlich Zufriedenheit, Erfüllung und Glück, bestätigen auch westliche Wissenschaftler, die sich mit dem sogenannten Flow-Erleben beschäftigen. Wer völlig aufgeht in einer Tätigkeit, dessen Herzschlag, Atmung und Blutdruck arbeiten optimal zusammen. Limbisches System und Neokortex, also Emotionen und Verstand, sind in Harmonie. Was will man mehr!? 

 

Wenn's denn nur so einfach wäre, in diesen glückverheißenden Fluss zu gelangen. Zu oft sehen wir etwas vermeintlich Interessanteres am Ufer und steigen wieder aus. 

 

Der Flow kann sich unabhängig von dem, was man tut, einstellen – solange man es richtig tut, also mit voller Aufmerksamkeit. Passives Fernsehgucken gehört nicht dazu, wie die Flow-Forscher herausgefunden haben, während - wer hätte das gedacht - ordentliches Geschirrspülen, Teller für Teller, Glas für Glas, durchaus den Flow auslösen kann, wie jede Arbeit oder jedes Hobby, in dem wir uns mit Freude selbst verlieren. 

 

Das Geheimnis des Flow besteht darin, gefordert – bis an die persönliche Leistungsgrenze gefordert – aber eben nicht überfordert durch das jeweilige Tun zu sein. 

 

Nun kann allerdings auch das langsame Quälen eines Frosches, das Zusammenrühren eines Giftcocktails oder das Basteln einer Bombe in den Flow führen. Der Flow an sich ist wertneutral und hat mit ethischen Fragen – was ist eine „gute“, was eine „schlechte“ Tätigkeit - nichts zu tun. 

 

Und Sie? Sind Sie noch bei der Sache? Hören Sie noch zu? Oder sind Sie in Gedanken schon beim morgigen Tag, dem nächsten Urlaubsziel, der gestrigen Auseinandersetzung mit dem Kollegen – und: Ist überhaupt noch Butter im Kühlschrank? 

 

Es mag ein paar wenige Exemplare der Gattung Mensch geben, die es schaffen, mehrere Tätigkeiten gleichzeitig zu verrichten und dies auch noch effizient. Das Nächste zu tun und das Übernächste zu planen, während das Letzte, das gerade eben noch das Nächste war, noch nicht ganz abgeschlossen ist und über das Vorletzte eigentlich auch noch mal rübergeguckt werden muss... Das ist doch wirklich das Letzte! Wir sollten uns nicht einreden lassen, dass im auf die Spitze getriebenen modernen Multitasking ein erstrebenswertes Ziel liegt. Wer auf allen Hochzeiten tanzt, vergisst leicht, dass er selber noch nicht geheiratet hat. 

 

Multitasking ist eine Mär, und, speziell was Frauen angeht, eine gefährliche Ideologie. Denken wir zum Beispiel an das werbende Bild von der attraktiven jungen Mutter im home office: der zu stillende Säugling im linken Arm während die rechte Hand das Handy ans Ohr hält, und vor dem Mutter-Kind-Ensemble der neueste Computer hochfährt. Schöne neue Welt? Bessere Arbeitsmarktchancen für Frauen? Nein, danke. Das ist Überforderung pur und kann keine guten Ergebnisse hervorbringen: weder was die Arbeit angeht noch die Entwicklung des Kindes ganz zu schweigen von der psychischen und physischen Belastung für die Frau und Mutter. 

 

Wir haben schon genug Zappelphilippe in Kindergärten und Schulen sitzen. Betriebe klagen über immer mehr Auszubildende, die die Grundrechenarten nicht mehr beherrschen und unsicher in der deutschen Rechtschreibung sind. ADS, das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, ist kein Fremdwort mehr sondern mittlerweile so verbreitet wie Migräne und Rückenschmerzen.

 

Kaum auf der Welt, fängt DER STRESS heutzutage an. Schon Kindergartenkinder haben oft keine Freizeit mehr. Freizeit im ganz wörtlichen Sinne: f r e i e Zeit. Freie Zeit ist unverplant und zunächst ungestaltet; freie Zeit kann auch bedeuten, dass man sich furchtbar langweilt, aus dem Fenster stiert oder zum x-ten Mal gelangweilt mit dem Fuß gegen den Ball kickt. 

 

Statt dessen steht in vielen family planners, den Terminkalendern, ohne die kaum eine moderne Familie auskommt: Montags Ballett, Dienstags Turnen, Mittwochs Englisch-Spielkreis, Donnerstags Schwimmen und Freitags kreatives Basteln. Am Wochenende Vergnügungspark, indoor-Toben oder Kino. Und wer sich das alles nicht leisten kann, setzt seine Kleinen eben länger vor ein Computerspiel, legt eine DVD ein oder schaltet den Kinderkanal an. 

 

Moderne Medien an sich sind kein Teufelszeug, es gibt ganz wunderbare und pädagogisch wertvolle Angebote für die Kleinsten und Kleinen. Und, keine Frage, smartphones, laptops und tablets können Auffassungsgabe, Reaktionsfähigkeit, kognitives Lernen fördern. Wenn aber, wie bei „Problemkindern“ oft der Fall, zu stundenlangem elektronischen Spiel ausgedehntes Sitzen vor der Glotze kommt, während in der Familie gleichzeitig kaum gelesen oder vorgelesen wird, auch nicht viel gespielt oder, etwa beim gemeinsamen Essen miteinander geredet wird, wenn die Kinder wenig an die frische Luft zum Spielen, Klettern, Toben kommen – dann wird es gefährlich für Leib und Seelenleben des Nachwuchses. 

 

Bei der Sache bleiben: Das ist schwer, wenn man gewohnt ist, sich mit oder ohne Fernbedienung in der Hand durchs Leben zu zappen. Schnell wechseln, wenn man nicht weiterkommt, wenn der erste Reiz verflogen ist, wenn anderswo Besseres winkt: Auch Freunde und Partner werden „weggezappt“, wenn sie ins eigene Konzept nicht mehr passen. Per E-Mail oder SMS wird heutzutage mal eben so manche Beziehung beendet. 

 

Im digitalen Zeitalter wird Konzentration zur Überlebensfrage. Denn im Wust von SMS, E-Mails, Feeds und Tweets drohen wir, wie der ehemalige FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher in seinem Buch „Payback“ beschreibt, die Kontrolle über unser Denken zu verlieren. Überfordert von immer mehr Informationen, die fast rund um die Uhr auf uns einprasseln, sind wir nicht mehr Herr im eigenen Oberstübchen, unser Hirn hat Dauerstress. Schirrmacher starb 2014 an den Folgen eines Herzinfarkts. Sein Grabstein trägt ein Zitat von Goethe: „Die Überzeugung unserer Fortdauer entspringt mir aus dem Begriff der Tätigkeit; wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins anzuweisen, wenn die jetzige meinen Geist nicht ferner auszuhalten vermag.“

 

Wie paradox und wie traurig: Wir wissen mehr als je zuvor – aber wissen wir auch noch, was wichtig und richtig ist? 

 

In der Ergotherapie lernen kleine Zappelphilippe wieder zu fühlen, zu tasten, zu schmecken, zu riechen. Mühsam eignen sie sich an, was uns die Natur mitgegeben hat, was in all der Reizüberflutung aber abhanden kommt. Brauchen immer mehr Kinder heute immer mehr Therapie, um normal leben zu lernen? 

 

Das Nächste und Naheliegende für die vielen verplanten und gestressten Kinder unserer Leistungsgesellschaft wäre doch: freie Zeit wieder zuzulassen, Freiräume neu zu schaffen – zum Beispiel durch eine Entrümpelung des vollgestopften Kinderzimmers und des kindlichen Terminkalenders. Simplify your life! Pädagogen und Psychologen wissen, wie wichtig der scheinbare Leerlauf, das „Abhängen“ für die Entwicklung des Kindes und seiner Kreativität ist. Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, und leider sind viele Erwachsene, selber gebeutelt von zu viel Druck und Stress, oft keine guten Vorbilder in der Lebensgestaltung. 

 

Können Sie noch folgen, hören Sie noch zu – oder brauchen Sie jetzt eine Pause, um die vielen Informationen zu verarbeiten? Vielleicht wollen Sie lieber ganz abschalten? Sie entscheiden. Sie ganz allein – und genau das ist oft das Problem bei den vielen Optionen, die das Leben uns bietet. Nach Innen spüren, eine kleine oder größere Auszeit nehmen, kann helfen. 

 

Wenn ich mich selber fühlen kann und damit quasi in der Wirklichkeit verankere, weiß ich, wer ich bin. Wie sollte ich es sonst erfahren? Konzentration führt zu Bewusstsein, zum Bewusstsein meiner selbst, und erst von da aus kann es weitergehen zum Nächsten. 

 

Wo aber ist mein Nächster? 

 

In unserer zunehmend virtuell geprägten Gesellschaft ist dieser eher fern als greifbar oder sichtlich nah. Vielleicht wohnt er sogar um die Ecke oder arbeitet nur ein paar Tische weiter im Großraumbüro, aber man trifft sich nicht mehr - oder nicht mehr so häufig - in der Kneipe, im Café, auf dem Sportplatz oder schlicht auf der Straße oder dem Marktplatz – es sei denn dem von Amazon oder eBay... Man trifft sich in einer online-Community, wo man mailt, chattet und postet, wo man twittert und bloggt. 

 

Gerade für die junge Generation sind die Übergänge von einer Form der Kommunikation zur anderen fließend: Gerade eben hat man sich noch in der Schule gesehen, dann telefoniert man auf dem Heimweg per Handy miteinander, und trifft sich, kaum zuhause, im Chatroom von MSN oder bei facebook. Dort kann mal eben geklärt werden, wer die Würstchen und wer das Bier für die Party am Abend mitbringt. Oder wollen sich alle lieber schnell zu einem mitternächtlichen flashmob auf dem Rathausmarkt zusammenfinden? 

 

„Zusammen sein, egal wo Sie sind“ wirbt Skype, der kostengünstige Dienst für Internet-Telefonie und Videoanrufe. Schön, wenn man so zu Onkel und Tante in Amerika Kontakt halten kann, wenn Tochter oder Sohn gerade ein Auslandsjahr in Australien verbringen, wenn der Neffe ein work and travel-Programm in Südafrika absolviert. Langes Warten auf Postkarten, die unterwegs verloren gehen oder sündhaft teure Telefonate ins ferne Ausland gehören der Vergangenheit an. Computer hochfahren, Webcam einschalten, bei Skype einwählen: Heute können wir uns immer und fast überall mit unseren Nächsten verbinden. 

 

Haben wir uns deshalb mehr oder Wesentlicheres zu sagen? 

 

Neben unübersehbaren Gefahren, die vor allem den Datenschutz aber auch die Qualität der im Netz versammelten Informationen (Stichwort fake news) betreffen, eröffnet die digitale Revolution neue Chancen für soziale und politische Organisation. Gewerkschaften oder politische Parteien etwa, die noch die Strukturen aus dem vergangenen Jahrhundert mit sich herumschleppen, wirken schwerfällig gemessen an den Möglichkeiten, die die schnelle Kommunikation über das globale Netz bietet. 

 

Das Internet eröffnet sozialen Bewegungen eine neue Plattform und wird zu einem demokratischen Instrument: Angefangen auf lokaler Ebene etwa bei aufgebrachten Eltern, die sich bei facebook gegen die Erhöhung von KITA-Gebühren zusammenfinden über die politische Opposition in Iran, die sich erfolgreich über Twitter und andere Dienste des web-2.0 organisierte bis zu nationenübergreifenden Zusammenschlüssen wie etwa dem Bündnis der Globalisierungskritiker ATTAC. Das vom Kommunikationsexperten Marshall McLuhan vor einem halben Jahrhundert postulierte „globale Dorf“ ist Anfang des dritten Jahrtausends Wirklichkeit geworden. 

 

In diesem globalen Dorf sind wir alle Nachbarn. Ferne Nächste sozusagen. Aufeinander angewiesen und voneinander abhängig wie früher im Familienclan. 

 

Wenn in den USA eine Immobilienblase platzt, gerät nicht nur die amerikanische Wirtschaft in Schieflage sondern die Weltwirtschaft insgesamt. 

 

Der jüngst vom amerikanischen Präsidenten Trump verkündete Ausstieg der USA aus dem Pariser Klimaschutzabkommen hat weltweite Auswirkungen.

 

Wenn ein armes Land aus der Euro-Zone ins Trudeln gerät, bedroht das die Europäische Union im Allgemeinen und den deutschen Steuerzahler im Besonderen. 

 

Wenn Nordkorea oder der Iran mit der Atombombe ernst machen, können wir alle einpacken. 

 

Wenn muslimische Fundamentalisten einen Selbstmordanschlag verüben, kann die Bombe in New York, London, Paris, Berlin oder Tokio hochgehen.

 

Wenn Hunger, Dürre, politische Verfolgung und Krieg nicht erfolgreicher bekämpft werden, werden die Flüchtlingsströme von Süd nach Nord nicht zu stoppen sein. 

 

Man könnte auch sagen: Seit die Welt kleiner geworden ist, wächst sie uns immer mehr über den Kopf. 

 

Das globale Dorf ist ein komplexes und fragiles Gebilde, in dem Bewegung hier zum Erdrutsch dort führen kann. Wie der Schmetterling, der in Shanghai mit den Flügeln wackelt und damit - so die Annahme der Chaostheorie - einen Wirbelsturm in New York auslösen kann. 

 

Hält man sich die mit der Globalisierung verbundenen bedrohlichen Szenarien vor Augen, kann man eigentlich nicht mehr ruhig schlafen – falls man das je konnte angesichts des elementaren Risikos ein Mensch zu sein. Man wünscht sich all jene Probleme und Menschen, die so bedrohlich nahe gerückt sind, wieder weit weg. Das ist natürlich wishful thinking, Wunschdenken, denn das Rad der Geschichte lässt sich bekanntlich nicht zurückdrehen. 

 

Ob das Leben „früher“, als wir unsere Nächsten noch an den Fingern von ein paar Händen abzählen konnten, besser oder einfacher war, ist eine müßige Frage. Übersichtlicher war es gewiss, auch enger, eingeschränkter, langweiliger, bestimmt vom Rhythmus der Natur und den Erfordernissen des nackten Überlebens. Der und die Nächste jedenfalls lebten nebenan – und viel weiter als bis zum nächsten Dorf oder der nächstgrößeren Stadt kamen die meisten Menschen ihr Leben lang nicht.

 

Es ist erst ein gutes halbes Jahrhundert her, dass die Deutschen anfingen, das Ausland zu entdecken. Ausland, das hieß in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts vor allem Italien. Im neuen Volkswagen reiste die deutsche Vorzeige-Familie nach bella Italia

 

Gleichzeitig setzte mit der Anwerbung von Gastarbeitern - Italienern, Türken, Jugoslawen - eine Gegenbewegung ein: Ausländer strömten zu Zehntausenden in die Bundesrepublik. Die multikulturelle Gesellschaft steckte in den Kinderschuhen. Der Begriff des „Nächsten“ erweiterte sich peu à peu, auch wenn der Nächste noch lange Zeit ein Fremder bleiben sollte. Dennoch war „Multikulti“, in den großen Städten zumal, irgendwann als gesellschaftliche Realität akzeptiert und geschätzt, während gegenwärtig – hervorgerufen durch die massiven Flüchtlingsströme der jüngsten Vergangenheit – „dem Fremden“ wieder mit mehr Argwohn und Angst begegnet wird als vor ein paar Jahren. 

 

Wie ein Stein, der ins Wasser fällt und immer größere Kreise zieht, hat sich der Begriff vom Nächsten in den vergangenen Jahrzehnten ausgeweitet. Eine rasante Entwicklung: Unsere Nächsten finden wir heute rund um den Globus. Wachsende Reisemöglichkeiten, neue Kommunikationsmittel wie das Internet machen dies möglich. 

 

Für die Enkel der Generation, die das Wirtschaftswunderland Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg aufbaute, ist es nicht ungewöhnlich, ein Schuljahr im Ausland zu absolvieren, in den Ferien in der Fremde zu jobben, ein Praktikum, eine Ausbildung oder ein Studium fern der Heimat zu machen. 

 

Wer von den Eltern heute es sich irgend leisten kann, schickt sein Kind weit weg, als könne es nur dort die Fertigkeiten für ein gelingendes Leben erwerben. Amerika, Australien, Neuseeland - je ferner, desto besser - und umso teurer für die Eltern, die sich glücklich schätzen dürfen, wenn sie selber vor dreißig, vierzig Jahren als Schüler nach England oder Frankreich kamen. 

 

Reisen bildet, das ist eine alte Volksweisheit. Und ist, wie Mark Twain so treffend bemerkte, „tödlich für Vorurteile“. Wer die heimischen vier Wände verlässt - und sei es nur virtuell - , setzt sich mit Unbekanntem auseinander und erhält neue Impulse. Wie leben Menschen anderswo, wie denken und fühlen, wie feiern und trauern sie, wie lösen sie Probleme? Was haben wir gemeinsam, was trennt uns voneinander? Mit solchen Fragen wird der Reisende konfrontiert. 

 

Wer seinen Horizont real oder virtuell reisend erweitert, erweitert sehr wahrscheinlich auch seine Fähigkeit zur Empathie. Er kann sich besser in seine Mitmenschen, in ihr Denken, Handeln und Fühlen, hinein versetzen. 

 

Genau hierin, in einer immer empathischer werdenden Menschheit, sieht der amerikanische Soziologe und Politikberater Jeremy Rifkin eine Chance für die Rettung unseres Globus. In seinem Buch „Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein“ schreibt Rifkin die Geschichte der Menschheit neu -unter dem Aspekt der Empathie, den Historiker und Anthropologen sträflich vernachlässigt hätten. Während die vorherrschende Geschichtsschreibung den Blick auf Krieg und Katastrophen, auf Unrecht und Grausamkeit richtet, betrachtet Rifkin den Lauf der Jahrhunderte und Jahrtausende unter dem Aspekt der Zunahme und Ausdehnung von Empathie. 

 

„Empathie“, behauptet der US-Wissenschaftler, der sich neue Erkenntnisse etwa aus der Hirnforschung und Entwicklungspsychologie zunutze macht, „Empathie ist so alt wie unsere Spezies, und sie lässt sich zurückverfolgen bis zu unseren Vorfahren unter den Primaten und, in noch fernerer Vergangenheit, unter den Säugetieren.“ 

 

Die Gabe, sich in andere zu versetzen und bei dem, was man tut, die Folgen für seine Nächsten zu bedenken, sei im menschlichen Wesen angelegt und quasi von Geburt an vorhanden. Rudimentär zumindest, was sich zum Beispiel daran zeige, dass Säuglinge auf das Schreien anderer Neugeborener mit eigenem Gebrüll reagierten. Ausgeprägter dann im Alter von etwa zwei Jahren, wenn das kleine Kind lerne, zwischen der eigenen Person und anderen zu unterscheiden. 

 

Natürlich sind nicht alle Menschen gleich mitfühlend. Wie weit sich das empathische Bewusstsein entwickelt, hängt wesentlich von der Bindung an die Eltern ab und von den Werten der Kultur, in der man aufwächst. 

 

Rifkin sieht in der Globalisierung eine Riesenchance zur Rettung der Menschheit. Zwar habe sich das „emphatische Bewusstsein … in der Geschichte des Homo sapiens nur langsam entwickelt. Manchmal erlebte es eine Blüte, nur um für lange Phasen wieder in den Hintergrund zu treten.“ Aber seine Entwicklung gehe Hand in Hand mit der Entwicklung des Ich-Bewusstseins und den immer komplexer werdenden gesellschaftlichen Strukturen. Rifkin denkt deshalb, dass die fortschreitende weltweite Vernetzung – und, auf lokaler Ebene, die multikulturelle Verstädterung – eine deutliche Steigerung des Mitgefühls hervorrufen könne. Er glaubt sogar, „ … dass … es keine Generation mehr dauern könnte, bis die Wende zum biosphärischen Bewusstsein erreicht ist.“ 

 

Auf eine mögliche positive Entwicklung setzt auch der Kulturwissenschaftler Nico Stehr mit seiner These von der „Moralisierung der Märkte“. Immer mehr Konsumenten versuchen, ihren ganz persönlichen Beitrag zum Klimaschutz, zur Schonung der Ressourcen und zum fair trade mit den Armen der Welt zu leisten. Diese sogenannten „strategischen“ Konsumenten bemühen sich, so zu leben, zu wohnen, einzukaufen und zu reisen, dass der Rest der Welt darunter nicht leiden muss - oder sogar davon profitiert. Ein solches Verhalten beeinflusst den Markt entsprechend und verschafft Unternehmen Auftrieb, die Wirtschaft und Ökologie, Geschäft und Moral miteinander vereinbaren. Nico Stehr hält die Moralisierung der Märkte für einen sich selbst verstärkenden Prozess, „der im Laufe der nächsten Jahrzehnte auf die gesamte Weltwirtschaft übergreifen wird“. 

 

Nun ist es ein Leichtes, die Stirn in kritische Falten zu legen und Querdenkern wie Rifkin oder Stehr Naivität und Träumerei vorzuhalten. Die globale Flüchtlings-, Umwelt-, Wirtschafts- und Finanzkrise schafft Indizien in Hülle und Fülle, die zeigen, dass die Menschheit dabei ist, den Planeten Erde und sich selbst zugrunde zu richten. 

 

Dennoch, wer wollte ganz ausschließen, was schon Hölderlin wusste: Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. 

 

Die positive Vision lautet: Der Mensch als mitfühlendes Wesen und bewusster Konsument kann seine Welt vor dem Untergang retten. 

 

Sie entscheiden! So gesehen, wären Sie dann sich selbst der oder die Nächste.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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